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MTB-Race: Was macht ein Mountainbiker beim Rennrad-Marathon Novecolli?

Hilfe, was mache ich als Mountainbiker hier am Start unter 13.000 Rennradfahrern? Ich bin doch der, der auf dem Fahrrad die Ruhe und Entspannung sucht. Ich bin doch sooo anders als die hier. Ich trage keinen Tyvek-Anzug oder Müllsack gegen die klirrende Kälte (12,5 Grad!), trage kein Tatoo mit Kettenblatt, Kette, Dreizack oder Drachen auf der Wade. Aber angemeldet ist angemeldet, da muss ich durch!
Am Start mit anderen 13.000 Rennradlern aus 52 Nationen
 
Nach dem Start geht es richtig zur Sache. Gefühlt endlos zieht sich die Strecke in der Ebene, eigentlich sind es nur 28 Kilometer. Bei Tempo >45 keine große Sache, möchte man meinen, die nach 40 Minuten ihr natürliches Ende findet. Und doch heißt es, rundherum aufpassen, stets voll konzentriert zu sein. Reißt mal der Kontakt zur Gruppe ab, steht man alleine im Wind. Bis - wie eine tosende Brandung - eine neue Welle von Fahrern herankommt, an die man sich anhängt und sich mitziehen lässt. Aufpassen heißt es auch an den unzähligen Kreisverkehren, Abzweigungen und Kreuzungen. Trotz Ordnungsdienst mit Fahnen und Trillpfeifen liegen immer wieder abertausende von Euros in Form von verunfallten Teilnehmern mit ihren teuren Sportgeräten mit verbogenen oder geborstenen Felgen, verschrammten Rahmen und zerrissenen Trikots am Straßenrand.

Wann kommt endlich der erste Anstieg? Wann muss ich nicht mehr mit diesen rabiaten Wellen mitschwimmen, kann meinen eigenen Rhythmus fahren? Diese Gedanken beschäftigen mich, nachdem ich wieder eine Gruppe habe abreißen lassen, ehe wieder das Branden von Carbonhochbettfelgen herandonnert, mich einhüllt und mich mitreißt wie ein Zug und ich eigentlich nur noch auf das charakteristische Tock-tock, Toch-tock, Tock-tock der Waggons auf den Geleisen warte.
Mit 13.000 ist man nie allein, immer in guter Gesellschaft
 
Endlich der erste Anstieg, der Polenta. Hier finden so manche Flachfahrer ihren Meister, müssen zum ersten Mal der Schwerkraft Tribut zollen und sich auf die Leistungsfähigkeit der eigenen Herz-Lungen Maschine einstellen. Kaum oben angekommen stürmen von hinten wieder Fahrer im Superheldenkostüm heran, drängeln sich vor, stürzen sich in die Abfahrt, als ob es um die intergalaktische Meisterschaft ginge. Nach der dritten Kehre sitzen bereits zwei der Helden mit blutigen Gesichtern am Straßenrand - es sind nicht die letzten heute. Und auch der eine oder andere Kugelblitz schießt rechts an mir vorbei: bis später Kollege, wir sehen uns beim nächsten Anstieg! Immer schön motiviert bleiben, bis zum Ziel.

Eine Veranstaltung wie den Nove Colli Radmarathon muss man genießen können, sich die Menschen, Räder und die Sprüche auf den Shirts ansehen - aber auf den 205 Kilometern mit 3.840 Höhenmetern habe ich ja Zeit. Mir ist klar, ich fahre nicht um den Sieg. Gerade zweimal habe ich bisher in der Saison auf dem Rennrad gesessen, nur 300 Rennradkilometer zu Trainingszwecken zurückgelegt. Das Jahr ist noch jung und auch die MTB Kilometer liegen noch im niedrigen dreistelligen Bereich. Ein Bekannter hatte mir mal den Tipp gegeben: "se vuoi fare la Novecolli, cerca di avere 5.000 chilometri nelle gambe" - willst du die Novecolli fahren, sieh zu, dass du 5.000 Km in den Beinen hast. Ich hab 500 Km - aber erst nach dem Rennen!

Auf dem Weg zum zweiten Anstieg, nach Pieve di Rivoschio - etwa nach Kilometer 50 - liegen plötzlich links und rechts der Strecke Berge von kaputten Schläuchen. Eine Geschichte macht unter den Teilnehmern die Runde, ein besonderer Sympathisant des Rennens hat wohl Nägel gestreut und sämliche Schlauchvorräte der Athleten, der Servicestellen und Servicefahrzeuge auf wenigen Metern Strecke pulverisiert. Ein Teilnehmer meint, diesen Sohn einer H... solle beim ... der Blitz erschlagen.

Der dritte Anstieg ist der Ciola, der geht noch recht leicht. Ein Stopp beim "ristoro abusivo" ist beinahe Pflicht, wenn man das Rennen zum Vergnügen fährt. Wurstwaren, Käse, Polenta, Wasser und Wein werden an dieser "unerlaubten", von einem noblen Spender (Sponsor) bestückten Verpflegungstation serviert.  Eine Jause tut gut, bevor es nach der Abfahrt nach Mercato Saraceno den berüchtigten vierten Hügel, den Borbotto, hoch geht. Die Strecke ist nur 5,5 Km lang und anfangs angenehm zu fahren, wird aber steiler und steiler. Besonders die Kehren hat der Straßenbaumeister gut hingekriegt, diese sind gefühlt wie senkrechte Mauern angelegt. Auf dem Papier sind es "nur" 18 Prozent Steigung. Alle kämpfen, radeln hoch, manche schieben und oben gibt es eine Bergwertung und ein riesiges Tamtam um jeden, der durch den Bogen der Zeitnehmung fährt.

Harmlos geht es in den berüchtigten Anstieg zum Borbotto
 
Es geht weiter, ab Sogliano bei Km 103 wird es ruhiger, denn hier biegen die Enduristen nach rechts auf die lange Distanz (205 Km) ab, während sich die Hektiker geradeaus in Richtung Ziel (130 Km) bewegen. Die Langstreckler sind jetzt unter sich. Aber was ist da los? Nach der Abfahrt kommen uns in Ponte Uso bereits die schnellsten Fahrer auf der Strecke in einem Höllentempo entgegen. Sie haben bereits die Schleife, bestehend aus den Anstiegen fünf, sechs, sieben und acht zurückgelegt und kreuzen unsere Strecke hier für ein paar hundert Meter. Diese Fahrer haben gut 50 Kilometer Vorsprung, nur noch einen Anstieg und etwas mehr als eine Stunde Fahrzeit vor sich. Egal, rein in den fünften Anstieg, der Monte Tiffi ist nur drei Kilometer lang, aber steil und hier ist es heiß - darauf kann man sich verlassen. Die neun Kilometer nach Perticara, dem sechsten Anstieg ziehen sich. Zeit zum Mittagessen, Energienachschub! Ein Teller mit hervorragenden Ravioli aus dem Kochtopf der Dorfköchin stillen den Hunger und geben wieder Kraft. Dazu ein wenig auf der Bank am Dorfplatz sitzen und das Treiben beobachten, dann geht es weiter.

Romagnolische Ravioli - nicht nur während des Novecolli ein Gedicht
 
Den Anstieg Nummer sieben, den Monte Pugliano, der mit 791 Metern die höchste Erhebung im Rennverlauf ist, fahre ich mit einem Teilnehmer im kompletten AS Roma Rennrad Trikot. Das ist mal ein konsequenter Fan seiner Mannschaft. Und er kämpft mit dem 9 Kilometer langen Anstieg, wie ich. Am achten Anstieg zum Passo delle Siepi geht es plötzlich leicht, ich fliege hoch, überhole laufend und mich befällt eine leichte Euphorie. Nur noch ein Anstieg - wenn auch sehr knackig, dann geht es in Richtung Meer und damit ins Ziel.

Der neunte Anstieg, der Gorolo führt mich zurück in die Realität und zeigt mir, auf den lediglich vier Kilometern mit Spitzen von 17 Prozent Steigung, warum er so gefürchtet ist. Mir zieht er den letzten Saft, der nach über 170 Kilometern noch vorhanden ist. Durch die beschaulichen Örtchen Tomba, Borghi und Tibola kämpfe ich mich in Richtung Savignano. Die letzten 20 Kilometer in der Ebene im Gegenwind kann ich mich kaum noch an schnelleren Gruppen orientieren. So fahre ich mit zwei Senioren mit, einem Deutschen und einem Engländer. Beide sind deutlich älter als ich, wir wechseln uns an der Spitze ab und fahren in recht beschaulichem Tempo gegen den Wind in Richtung Cesenatico, der Heimat des Piraten Marco Pantani. So ausgekocht wie ich mag er sich wohl 1998 nach dem Gewinn des Giro und der Tour gefühlt haben.
Am Denkmal von Marco Pantani "il pirata" in Cesenatico
 
Fazit: Im Ziel nach 10:10 Stunden, mehr als zwei Stunden langsamer als vor ein paar Jahren mit deutlich mehr Training. Aber viel erlebt, viel gesehen und irgendwie den Tag voll ausgekostet, eine lange Tour gefahren. 2:45 vor dem Letzten im Ziel,  Platz 4099 von 4873 auf der Langstrecke, auf den "richtigen" Novecolli. Weichgekocht zwar, aber zufrieden mit dieser Erfahrung, damit ist meine neunte Teilnahme am Rennen über die neun Hügel beendet. Detaillierte Streckeninfo hier.


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